Was ist AGILität?
Unter „Agilität“ lässt sich eine Maxime verstehen, die von Management und Unternehmens-Beratern herangezogen wird, um aus behäbig gewordenen Organisationen des Industriezeitalters flinke und wendige Unternehmen in der digitalisierten Gesellschaft zu machen. Unter dem Vorzeichen größerer Kundennähe sollen sich Unternehmensleitbilder ebenso an „Agilität“ orientieren wie Produktionsprozesse; Formalstrukturen in Unternehmen sollen ebenso „agil“ gehandhabt werden wie die Mitarbeiterführung. Das ist alles leichter gesagt als getan. Was macht die Sache so schwer?
Externe vs. interne Anpassung
Unternehmen registrieren nicht nur, dass sie sich im 21. Jahrhundert verändern müssen, um an ihre externen Umwelten, den Märkten, angepasst zu bleiben Sie registrieren darüber hinaus auch, dass sie interne Umwelten haben, die sich nicht so ohne weiteres verändern lassen. Über die nicht-entschiedenen Prämissen der Entscheidungen des Managements („Unternehmens-Kultur“), verfügt man ebenso schwer, wie über die normativen Überzeugungen der Belegschaft („Glaubenssätze“). Und die Interessen der Produktion bleiben trotz agilem Managements notorisch andere als diejenigen des Vertriebs.
Die einmal aufgebaute Eigenkomplexität der Organisation, die unter anderen Umweltbedingungen der Garant für den Erfolg des Unternehmens an den Märkten gewesen ist, führt nicht nur während, sondern oft auch noch nach Change-Prozessen ein hartnäckiges Eigen- und Weiterleben – und gefährdet mitunter sogar den Erfolg des Unternehmens.
Widerstände durch Selbstorganisationsprozesse
Woran liegt das? Kurz gesagt: an verselbstständigten Prozessen nicht nur innerhalb einer Organisation, sondern gerade durch Organisation. Alle sozialen Systeme, also auch Unternehmen, sind nicht nur Systeme in einer Umwelt, sie sind auch selbstorganisierte Systeme. Und wie alle sozialen Systeme, so reagieren auch Unternehmen auf Parameter, die sich im Prozess organisierten Verhaltens – gleichsam hinter dem Rücken der Akteure – von selbst herausbilden. Insbesondere Change-Prozesse lassen sich darum schwerer steuern, als es das Management oftmals wahrhaben und die Agilitäts-Maxime durchweg glauben machen will.
AGIL – ein Akronym für Selbstorganisation
Bei MESH® RESEARCH übersetzen wir die Diskussion um „Agilität“ in einen wissenschaftlichen Kontext.
AGIL steht hier nicht länger mehr für eine Management-Maxime, sondern für ein Akronym im Rahmen einer Selbstorganisationstheorie menschlichen Handelns (Talcott Parsons, Social Systems and the Evolution of Action Theory, 1977). Ursprünglich an aufgabenorientierten Kleingruppen entdeckt (Robert Bayles, The Equilibrium Problem in Small Groups, 1953) und später auch auf großformatige Systeme wie Organisationen (R. Jean Hills, Toward a Science of Organisation, 1968) und ganze Gesellschaften (Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, 1972; Richard Münch, Die Struktur der Moderne, 1984) übertragen, gehen solche Theorien davon aus, dass der Zusammenhang von mehreren Handlungen, d.h. die Etablierung eines Handlungssystems, sich auf Dauer nur etablieren lässt, wenn genau vier Funktionen erfüllt werden:
- Die Erlangung der Kontrolle über Mittel, mit denen sich eine Gruppe von Menschen an Bedingungen ihrer Umwelt durch ihr eigenes Verhalten besser anpassen können: Anpassung
- Die Definition von Zielen, die für ein Kollektiv von Menschen verbindlich erreicht werden sollen: Zielerreichung
- Der Ausgleich zwischen einander widerstrebenden sozialen Prozessen: Zusammenhalt
- Die Beibehaltung von Wertbindungen, denen sich Menschen auf selbstverständliche Weise verpflichtet fühlen: Aufrechterhaltung impliziter Wertmuster.
Das Akronym AGIL ergibt sich aus den ersten Buchstaben der englischen Bezeichnungen der vier Funktionen eines Handlungssystems:
Anpassung – Adaptation
Zielerreichung – Goal Attainment
Zusammenhalt – Integration
Aufrechterhaltung impliziter Wertmuster – Latent pattern maintenance
Ein Beispiel für die wissenschaftliche Reformulierung von „Agilität“ in Unternehmen
Viele der im Zusammenhang mit agilem Management empfohlenen Maßnahmen beziehen sich auf die vier funktionalen Aspekte eines Handlungssystems. Beispielsweise erfüllen sowohl die Umstellung auf iterative und inkrementelle (Produktions-) Prozesse sowie das Aufbrechen organisatorischer Silostrukturen durch die Installation agiler Projektteams die Funktion einer besseren Anpassung unternehmensinterner Rollen und unternehmerischen Verhaltens an die veränderte Nachfrage auf Märkten (Adaptation).
Um die definierten Ziele des Unternehmens nicht einfach hierarchisch gegenüber den eigenen Mitarbeitern durchzusetzen, sondern möglichst mit ihnen gemeinsam zu erreichen, ist parallel dazu auch ein Wandel der als legitim anerkannten Autoritätsressourcen eines bestimmten Kollektivs im Unternehmen – Führungskräfte – zu beobachten. Mehr und mehr wird ein hierarchischer Führungsstil zumindest um solche Versuche ergänzt, Mitarbeiter nicht mehr nur von „oben“, sondern auch von „der Seite“ aus, d.h. lateral zu führen (Goal Attainment).
„Agilität“ ist darüber hinaus auch für die Koordination von Handlungen und die Integration von Loyalitäten bei Mitarbeitern von Bedeutung. Denn wenn es richtig ist, dass sich Mitarbeiter im „New Work“ einerseits auf rasch wechselnde, unübersichtliche Situationen alltäglich einstellen können müssen, zu deren Bewältigung sie andererseits jedoch keine verlässlichen Entscheidungsgrundlagen und überdies auch noch zahlreiche Handlungsalternativen haben („VUKA“), würde nicht nur das eigene Verhalten unnötig gehemmt, sondern auch die Abstimmung mit dem Verhalten anderer immens erschwert werden, hätten sich nicht in jedem Unternehmen de facto soziale Normen eingespielt, die den Mitarbeitern Aufschluss darüber geben, welche „agilen“ Verhaltensweisen in welchen Situationen füreinander als anschlussfähig gelten – und welche wiederum nicht. Denn nicht für jedes Verhalten, das sich selbst als „agil“ anpreist, kann man bei Kollegen auf soziale Unterstützung zählen (Integration).
Mit diesen Veränderungsprozessen geht wiederum eine schleichende Veränderung in der Unternehmenskultur einher.“Agilität“ wird in Unternehmen immer mehr zu einem Wert, der nicht nur als Legitimationsquelle für Veränderung von Organisationsstrukturen und Führungsstilen beansprucht und in Leitbildern nach außen dargestellt wird. „Agilität“ ist darüber hinaus auch ein Wertmuster, das in der digitalisierten Welt des „New Work“ von Mitarbeitern schleichend internalisiert wird – nicht zuletzt bedingt durch das „Home Office“. Im Prozess der (keineswegs leichten) Verselbstverständlichung der alltäglichen Orientierung von Mitarbeitern am Wertmuster „Agilität“ – durch die Etablierung eines „agilen Mindset“ also – können sich Unternehmen auch noch in Zeiten durchgreifenden Wandels ihre strukturelle Identität – wenn man so will: ihre „DNA“ – bewahren (Latent pattern maintenance).
Management-Mode vs. Management-Methode
Indem wir bei MESH® RESEARCH auf eine wissenschaftlich fundierte Theorie der Selbstorganisation menschlichen Handelns zurückgreifen und sie praxisnah für Personal- und Organisationsentwicklung in Unternehmen, wie auch für berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen aufbereitet, erhalten die Management-Instrumente der Gegenwart nicht einfach nur eine größere intellektuelle Tiefe. Wie am Beispiel von AGILität aufgeführt, erfahren Fach- und Führungskräfte dadurch nicht nur, wie sie vorgehen können, um möglicherweise einen Effekt zu erzielen, sondern aus welchen Gründen sie an welchen Stellschrauben in ihren Unternehmen drehen müssen, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Damit lernen sie bloße Management-Moden von echten Management-Methoden zu unterscheiden.